Cover
Titel
A Taste for Purity. An Entangled History of Vegetarianism


Autor(en)
Hauser, Julia
Reihe
Columbia Studies in International and Global History
Erschienen
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Bosch, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Die vorliegende Studie, zugleich die Habilitationsschrift der Kasseler Globalhistorikerin Julia Hauser, untersucht die Entstehung des modernen Vegetarismus aus der wechselseitigen Beobachtung und Verflechtung vegetarischer Ideen zwischen Europa, Nordamerika und Südasien. Vegetarismus besteht für sie – teils entgegen dem Selbstverständnis der Akteure – in erster Linie im Verzicht auf Fleischkonsum, der durch das titelgebende Streben nach „Reinheit“ motiviert gewesen sei. In fünf Kapiteln untersucht die Autorin die Verbreitung dieses Motivs auf der Grundlage überwiegend publizierter Quellen vom Aufkommen des modernen europäischen Vegetarismus Ende des 18. Jahrhunderts bis zum ersten vegetarischen Weltkongress auf indischem Boden 1957.

Im europäischen Vegetarismus spielten Indienbilder wie der Topos des „barmherzigen Hindus“, wie das erste Kapitel zeigt, schon früh eine Rolle. Doch entsprach die Vorstellung eines homogenen, vegetarischen Indien kaum der Realität, da es meist lediglich die brahmanischen Ernährungsgewohnheiten waren, die als panindische Diät imaginiert wurden. Ähnliches konstatiert die Autorin auch für das in Deutschland verbreitete Bild des arabischen Muslims, der infolge des Alkoholverbots gemäßigt lebte – ein Bild, das ebenfalls kaum der Realität des Osmanischen Reiches entsprach. Allerdings dienten die globalen Verweise ohnehin in erster Linie der europäischen Legitimation des Vegetarismus, denn mit dem Argument, ein Großteil der Weltbevölkerung lebe vegetarisch, ließ sich die in Europa randständige fleischfreie Ernährungsweise als weit verbreitet verteidigen.

Anders die Situation in Indien, wo Fleischverzicht auf eine lange Tradition zurückblicken konnte. Dort bestand das Ziel fleischfreier Lebensweise im Streben nach Reinheit und der Verzicht erstreckte sich auch auf andere „unreine“ Lebensmittel. Zugleich fungierte der Fleischverzicht im Zuge des aufkommenden Hindunationalismus in doppelter Hinsicht als nationalistisches Identifikationsangebot: Er versprach Stärke im Kampf gegen die (rindfleischverzehrenden) Briten sowie Reinheit in den antimuslimisch ausgerichteten cow-protection-Kampagnen und wurde so Signifikant des Hinduismus und „des Inders“. Gerade die Theosophische Gesellschaft erwies sich als Vernetzungsraum, da ihr sowohl europäische als auch indische Vegetarier:innen angehörten und diese Ideen der jeweils anderen Seite in ihre Überlegungen aufnahmen. So fanden westliche wissenschaftliche Überlegungen Eingang in indische vegetarische Programme; brahmanische Ideen über spirituelle Entwicklung gingen – über die Theosophie vermittelt – in westliche Weltbilder ein.

Einen zweiten Knoten globaler Vernetzung identifiziert Hauser in der Chicagoer World Columbian Exposition von 1893, bei der mehrere indische Teilnehmer:innen vegetarische Ideen propagierten. In diesem Zusammenhang verortet sie auch die vegetarisch-esoterische Mazdaznan-Sekte, deren Gründer Otto Hanisch verschiedene Ideenbestände aus Indien, aber auch aus der europäisch-amerikanischen esoterischen Tradition mit vegetarischen Ernährungsvorgaben verschmolz und als authentisches ägyptisch-pharaonisches Wissen ausgab. In den 1889 beziehungsweise 1908 gegründeten internationalen vegetarischen Organisationen dominierten jedoch Europäer:innen und die südasiatischen Einflüsse wurden aus der vegetarischen Geschichte herausgeschrieben.

Im vierten Kapitel schreibt Hauser gegen die These an, Indien sei im deutschen Vegetarismus eine bloße Projektionsfläche gewesen. Vegetarier wie der völkische Buddhist Ludwig Ankenbrand oder der Schweizer Lebensreformer Werner Zimmermann hätten vielmehr ein ernsthaftes Interesse an Indien gehegt. Trotz dieser These überwiegen in den untersuchten Beispielen die Brüche. Besonders deutlich wird dies am Schweizer Zimmermann, der zwar Gandhi verehrte, aber dessen Lehre sich in wesentlichen Punkten mit derjenigen Gandhis als inkompatibel erwies. Bezeichnenderweise zeigte Gandhi selbst wenig Interesse an dem charismatischen Schweizer und schlief während des einzigen persönlichen Gesprächs nach kurzer Zeit ein.

Das Buch endet mit dem vegetarischen Weltkongress 1957, der erstmals in Indien stattfand und der Indien erstmals „from a sphere of projection to an active participant“ (S. 153) machte – eine Aussage, die in einer gewissen Spannung zur vorherigen Darstellung steht. Indien ließ sich vor dem Hintergrund der Blockkonfrontation als pazifistischen Vermittler zwischen West und Ost stilisieren. Doch die Behauptung, das indische Kulturerbe sei wesentlich durch Gewaltfreiheit geprägt, beruhte, wie die Autorin argumentiert, auf der Verdrängung des durchaus gewalttätigen, antimuslimisch geprägten Vorkriegsvegetarismus. So endet Hausers Geschichte des Vegetarismus mit der Mahnung, nicht die politischen vielfältigen Anschlussmöglichkeiten vegetarischer Ernährung zu vergessen, die nicht nur säkular und progressiv, sondern durchaus auch (neu-)religiös, rassistisch, eugenisch und antisemitisch gedeutet werden konnte.

Hausers kenntnisreich und auf breiter Quellengrundlage verfasste Studie stellt eine Pionierarbeit dar, die erstmals die Genese vegetarischer Ideen in einem globalen Kontext untersucht. Dabei liegt ihre Stärke darin, dass sie nicht von bruchlosen „flows“ und Zirkulationen spricht, sondern die Diskontinuitäten und Übersetzungsschwierigkeiten ins Zentrum stellt. Zugleich führt dies aber dazu, dass sie ihrer Kernthese, der Vegetarismus habe sich im 19. Jahrhundert durch den Austausch zwischen der atlantischen und südasiatischen Welt entwickelt und könne nicht getrennt betrachtet werden, selbst weitgehend widerspricht. Obwohl die Autorin mehrfach betont, Indien sei keine bloße Projektionsfläche, zeigen ihre Beispiele stets das Auseinanderfallen von Indienrezeption und dem „authentischen“ indischen Diskurs. Europäische Vegetarier:innen vertraten demnach stets ein inadäquates Bild von Indien wie vom osmanischen Arabien, wie Hauser auf der Grundlage profunder Kenntnis der jeweiligen regionalhistorischen Literatur nachweist. So wichtig diese Erkenntnis ist, so sehr wirft sie die Frage auf, inwiefern der Vegetarismus des 19. Jahrhunderts dann als verschränktes Phänomen betrachtet werden sollte.

Der Versuch, Verschränkungen auf der Ebene konkreter Einflüsse nachzuweisen, erweist sich angesichts der problematischen Quellenlage als schwierig: Vegetarier:innen hinterließen jenseits ihrer Publikationen kaum Quellen und die eingeschränkte Quellenlage erlaubt daher meist nicht, konkrete Rezeptionswege zu rekonstruieren. Daher muss die Autorin sich in Bezug auf die konkrete Rezeption zumeist auf Spekulationen beschränken, was zwar von intellektueller Redlichkeit zeugt, aber angesichts des Anspruchs, die Genese vegetarischer Ideen aus konkreten Interaktionen nachzuzeichnen, unbefriedigend bleibt.

Eine Alternative zur Rekonstruktion konkreter Übersetzungswege hätte eine konzeptionelle Analyse der vegetarischen Diskurse in Südasien und Europa bieten können. So drängt sich die Frage auf, ob die titelgebende „Reinheit“, die für Hauser den „gemeinsamen Nenner“ (S. 4) des Vegetarismus darstellt, über das bloße Wort hinaus auf ein gemeinsames Konzept referiert. Es scheint zweifelhaft, dass in der europäischen Hygiene, im christlichen Moraldiskurs, in der brahmanischen Spiritualität und der theosophischen Esoterik mit „Reinheit“ ähnliche Konzepte verbunden wurden. Doch die Autorin verzichtet darauf, ihre zentralen Quellenbegriffe konzeptionell zu präzisieren, sondern konstatiert, dass die begriffliche Unschärfe den Austausch zwischen Europa und Asien erleichtert habe. Das ist eine überzeugende These, birgt aber die Gefahr, die Perspektive der Akteure unkritisch zu reproduzieren. Dies gilt umso mehr, als sie soziale Räume wie die theosophisch geprägten Clubs der indischen „global bourgeoisie“ untersucht, die ohnehin bemüht waren, die Konvergenz indischer und westlicher Konzepte zu belegen. Hier wäre es interessant gewesen, nicht-englischsprachige Quellen in die Analyse mit einzubeziehen, um zu testen, ob auch gegenüber einem indischen Publikum auf die Gemeinsamkeit der verschiedenen Konzepte insistiert wurde.

Insgesamt legt Julia Hauser eine gut recherchierte, für eine transnationale Erweiterung der Forschung zu Vegetarismus und Lebensreform äußerst anregende Habilitationsschrift vor. Sie erschließt das Themenfeld auf der Grundlage einer profunden Kenntnis der Quellenlage, sodass keine zukünftige Arbeit an ihr vorbeikommen wird. Zugleich wirft die Arbeit inhaltlich eine Reihe von Fragen auf, an welche die zukünftige Forschung sicherlich produktiv anschließen kann, und stellt damit im besten Sinne des Wortes eine Pionierstudie dar.

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